Manifest

Das Manifest enthält vier Forderungen und dazugehörige Kernaussagen, die aus unserer breiten und kollektiven wissens- und praxisbasierten Expertise entstanden sind. Die jeweiligen Kernaussagen haben wir mit Argumenten unterlegt, die als ausklappbare Texte zur Verfügung stehen.

Das Manifest kann auch als PDF runtergeladen werden.

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Wir alle tragen dazu bei, Transformationen für eine nachhaltige Zukunft zu ermöglichen.

1.1 Die Krisen der Welt verlangen von uns immense Veränderungen und kompetentes Handeln.

Grosse ökologische, soziale und wirtschaftliche Krisen (Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Armut, Migration, Pandemien, Kriege, usw.) zwingen uns, angemessen zu reagieren und unsere Zukunft mit Blick auf eine nachhaltige Entwicklung zu gestalten. Ein Weiter-wie-bisher ist ein unmöglicher Zukunftsentwurf. Stattdessen sind für eine nachhaltige Zukunft immense Anpassungen und kompetentes Handeln nötig. Wir meinen damit sozial-ökologische Transformationsprozesse, die sowohl lokal wie global gestaltet werden müssen (Dixson-Declève et al., 2022).

1.2 Es braucht Bildung für nachhaltige Entwicklung für alle, auf allen Bildungsstufen und ein Leben lang.

Sprechen wir von Anpassungsleistungen, geht es um Lernprozesse und radikale Veränderungen von Denk- und Handlungsweisen, also um transformatives Lernen. Angesprochen sind alle Lebensbereiche, die Lernen auslösen, begleiten und steuern. Es braucht also ein Zusammenspiel von allen formalen, non-formalen und informellen Bildungsakteur*innen, die sich bewusst der Nachhaltigkeit zuwenden.

Dafür braucht es Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE), ein Bildungskonzept, das individuelle, gesellschaftliche und organisationale transformative Lernprozesse auf eine ganzheitliche Weise fördert (UNESCO, 2020: #ESDfor2030; UNESCO, 2021: Berliner Deklaration). Dies soll allen zugänglich sein und passiert in allen Lebensphasen, ein Leben lang.

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Kosmetik reicht nicht: Wir sind offen für radikale Veränderungen in unserem Denken, Fühlen und Handeln. Individuell und kollektiv.

2.1 Eine nachhaltige Zukunft bedingt, dass wir unsere Gewissheiten und Werte radikal in Frage stellen.

Wie wir handeln oder denken und ob wir nachhaltiger handeln können, hängt von unseren Gewohnheiten und unseren Überzeugungen ab. Dahinter stecken meist unausgesprochene und unbewusste Grund- und Glaubenssätze, Werte und Normen sowie unser Selbstverständnis, wie wir unser Verhältnis zur Welt sehen. “Wir erlernen und habitualisieren eine bestimmte Stellungnahme zur Welt, eine praktische Welthaltung, die weit über unser kognitives »Weltbild«, unsere bewussten Annahmen und Überzeugungen über das, was es in der Welt gibt und worauf es ankommt, hinausgeht” (Rosa, 2019, S. 10). Als Gesellschaft muss man sich dieser zugrunde liegenden, grösstenteils unbewussten Wirkungsmechanismen bewusst werden, um Verantwortung zu übernehmen und Veränderungen gestalten zu können.

Unsere Grund- und Glaubenssätze, unsere Werte und Normen sowie unser Selbstverständnis und unsere Haltungen sind gebündelt in Bedeutungsperspektiven (Mezirow, 1997). Diese fussen auf biographischer Erfahrung und unserem Wissen und sind sozial gelernt. Sie haben “… drei Funktionen: Sie wirken 1. wahrnehmungsleitend für die Interpretation von Wirklichkeit, damit 2. orientierungsgebend für das individuelle Handeln und letztlich 3. identitätsprägend für das Individuum” (Singer-Brodowski, 2016, S. 15). Bedeutungsperspektiven sind damit wie eine Brille, durch die wir die Welt betrachten und beurteilen. Diese Brille hilft uns, Erfahrungen einzuordnen und Entscheidungen zu treffen. Bedeutungsperspektiven sind einerseits wichtig, damit wir in der Welt funktionieren und handeln können. Andererseits stabilisieren sie bisheriges nicht-nachhaltiges Handeln und können wegen ihrer wichtigen Funktionen nicht einfach so aufgegeben werden.

Gleichzeitig sind Bedeutungsperspektiven niemals nur individuell: Sie wirken, weil sie kollektiv geteilt werden und uns als Gemeinschaft Sinn geben. Daher müssen wir sie, um nachhaltiger zu handeln, individuell und kollektiv radikal in Frage stellen und gegebenenfalls ändern.

2.2 Transformation steht für Systemwandel statt Systemstabilisierung.

Was bedeutet «Transformation» wirklich? Transformation ist ein grundlegender, irreversibler, selbstorganisierter Wandel eines komplexen Systems, wie es Ökosysteme, Wirtschaftssysteme oder unsere Gesellschaft sind (Reißig, 2014), und der damit verbundenen individuellen oder kollektiven Bedeutungsperspektiven (Mezirow, 1997). Handelnde sind dabei letztendlich immer Individuen, die in Interaktionen innerhalb der verschiedenen Systeme eingebunden sind. Transformation ist also keine Kosmetik im Sinne von Anpassungen und somit Stabilisierung eines Systems; es ist auch keine einfach steuerbare Veränderung.

Im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung spricht man gleichwohl von einer Transformation, die insofern gesteuert werden soll, als sie sich an einem normativen Leitbild der Nachhaltigkeit ausrichtet und dieses aktiv anstrebt. Diese Ausrichtung ist eine ganzheitliche Vision, die in einem systemtheoretischen Weltbild und der Erkenntnis verankert ist, dass Mensch und Natur miteinander verbunden sind: das Wohl eines jeden hängt vom Wohl jedes anderen ab. Belebtes und Unbelebtes hat auch seinen von allen Menschen zu respektierenden Eigenwert (Lange 2012, Wahl 2016). Hiermit verabschieden wir uns von einem anthropozentrischen Weltbild. Die aktuellen Handlungsweisen des grössten Teils der Menschheit sind jedoch weit von dieser Vision entfernt.

2.3 Eine nachhaltige Zukunft ist nicht mit dem neo-liberalen Wachstumsparadigma vereinbar.

Im aktuellen globalen neo-liberalen Wirtschaftsmodell mit seinem Wachstumsparadigma und seinem individualistischen und liberalen Freiheitsverständnis wird die Beziehung zwischen Mensch und Natur vorwiegend anthropozentrisch gestaltet. Dies führt dazu, dass sich der Mensch als getrennt von der Welt versteht und folglich sich selbst und die Welt (im Sinne von Human- und Umweltkapital) zwecks Erfüllung eigener Bedürfnisse instrumentalisiert und kontrolliert. Unter anderem sollen gemäss diesem kapitalistischen Weltbild natürliche Ressourcen dem Menschen Rohstoffe liefern; und Menschen müssen sich den Zugang dazu jeweils durch Arbeit verdienen. Auch die Menschen werden dadurch instrumentalisiert, und Bedürfnisse werden immer wieder neu erzeugt, um wirtschaftliches Wachstum aufrechtzuerhalten. Dieser Prozess wird von dem Glaubenssatz getragen, dass Ressourcen unendlich verfügbar sind: wenn eine Ressource knapp wird, wird es eine weitere geben. Zunehmend setzt sich jedoch “die Erkenntnis durch, dass für das Erreichen der globalen Nachhaltigkeitsziele und das Befördern von globaler Gerechtigkeit eine Orientierung am wachstumsorientierten Pfad der westlichen Gesellschaften hinderlich ist” (Getzin & Singer-Brodowski, 2016, S. 33).

Indem sich der Mensch als Ordner der Welt versteht, er sich diese unterordnet und die Vorstellung hat, dass die Verfügbarkeit der Natur keinen Grenzen unterworfen ist, verliert er die Beziehung zu ihr und gefährdet damit seine eigene Existenz. In anderen Worten: wir müssen unser Weltbild und Selbstverständnis verändern und uns wieder als Teil der Welt verstehen, die planetaren Grenzen anerkennen, Menschenrechte achten, wie auch den Eigenwert von allem Belebtem und Unbelebtem beherzigen (Balsiger et al., 2017). Gefordert sind somit transformative Gegenentwürfe zum Wachstumsparadigma, die sich zum Beispiel an Suffizienz, Relationalität oder Gemeinwohl orientieren.

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Wir setzen uns für transformative Lernprozesse in allen Bereichen der Gesellschaft ein.

3.1 Transformatives Lernen ermöglicht uns, unsere Gewissheiten und Werte zu ändern.

Statt reaktiv auf Problemlagen zu reagieren und nachsorgend nicht-nachhaltige Entwicklungen zu korrigieren, ist es sinnvoll, Herausforderungen mit gemeinsamen Suchprozessen proaktiv zu begegnen und eine konkrete und gewünschte Transformation einzuleiten. Sommer & Welzer (2017) prägten hierzu die Formel “transformation by design or by disaster”. Wir ziehen klar “transformation by design” vor. Ein solcher antizipatorischer, kreativer und kollaborativer Umgang mit Problemlagen muss gelernt werden, insbesondere auch von den im Bildungssystem Beteiligten. Erst transformatives Lernen für eine nachhaltige Zukunft ermöglicht es, tiefgreifende Veränderungen von individuellen und kollektiven Bedeutungsperspektiven und damit auch von unserem Denken, Fühlen und Handeln zu bewirken.

Transformatives Lernen verändert sowohl unser Selbstverständnis als auch unsere Beziehung zur Welt. Im transformativen Lernprozess sind in der Tat gemäss Mezirow zwei Elemente zentral: (1) die kritische (Selbst)-Reflexion von Grundannahmen bzw. Bedeutungsperspektiven von anderen oder sich selbst (Mezirow 2012, S. 85), sowie (2) der kritische, gewaltfreie Dialog in einem Kollektiv, um implizite Annahmen explizit zu machen und hinsichtlich ihrer Funktionalität oder Relevanz für eine Interpretation und Sinngebung in der konkreten Situation zu evaluieren (Mezirow 2012, S. 78ff).

Für den transformativen Lernprozess ist es wichtig, experimentieren zu können, d.h. neue Bedeutungsperspektiven zu erkunden und neue Arten des Denkens, Fühlens und Handelns auszuprobieren oder auch zu trainieren, ganz im Sinne der oben erwähnten Bewusstseins- und Suchprozesse. Transformatives Lernen ist kein kurzfristiger Anreiz, vor allem wenn es darum geht, statt Symptombekämpfung die Ursachen einer nicht-nachhaltigen Entwicklung gemeinsam und in allen Bereichen der Gesellschaft anzugehen.

3.2 Transformatives Lernen auf gesellschaftlicher und persönlicher Ebene hängen unabdingbar zusammen.

Transformatives Lernen findet beim Individuum immer in Bezug zu seinem sozialen Kontext statt (Cranton & Taylor, 2012, S. 5ff.). Im Sinne eines konstruktivistischen Weltbildes ist davon auszugehen, dass wir Bedeutung, basierend sowohl auf Erfahrung als auch auf unseren Interaktionen mit anderen Menschen und deren Interpretation, selbst konstruieren. Dabei orientieren wir uns an unserem sozialen Umfeld und unserer Kultur (Mezirow, 2012). Oft nehmen wir auch Vorurteile und Stereotypen unreflektiert in unser Repertoire auf, die dysfunktional oder ausgrenzend wirken können. Vice versa heisst das: ein Individuum, das seine Bedeutungsperspektiven ändert und teilt, kann zu einer Veränderung der Bedeutungsperspektiven eines Kollektivs beitragen (Arnold & Perscher 2017).

Dass transformatives Lernen sowohl auf der persönlichen wie auch der gesellschaftlichen Ebene stattfindet, ist für den Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung sehr vorteilhaft. Denn die Erfahrung des transformativen Lernens wird durch das Gefühl von Resonanz gestärkt. Resonanz und Transformation sind verschachtelte Aspekte desselben Prozesses. Gemäss Rosa (2019, S. 38 ff.) sind dabei vier Momente relevant: 1) Im Austausch mit Menschen und Natur werden wir berührt (“affiziert”); 2) wir können darauf antworten und empfinden dabei Selbstwirksamkeit (wir können reagieren, wenn wir das wollen); 3) in der Begegnung können wir uns transformieren (Moment der Anverwandlung). Zudem betont Rosa, dass Resonanz 4) “unverfügbar” ist, sie lässt sich nicht instrumentell herstellen, unterliegt also der Selbstorganisation. Dieser Aspekt der Unverfügbarkeit ist auch zentral für Wüthrich (2020, S. 104-105): „Wenn ich in Resonanz trete, habe ich keine Ahnung, was daraus entsteht. Ich lasse mich auf etwas ein, und ich weiss nicht, was das Ergebnis des Resonanzprozesses sein wird. Ich mache mich verletzbar. (…) Ich bin hellhörig für Tonalitäten, Schwingungen und konstruktive Differenzen“.

Kollektive Auseinandersetzungen bedingen somit Offenheit und Respekt für multiple Perspektiven und unterschiedliche Formen von Wissen. Es kann also nicht nur darum gehen, Veränderungsprozesse im Kleinen zu fördern, sondern auch in grösseren Gruppen oder der Gesellschaft. Der Einbezug vieler und heterogener Perspektiven ist ein Vorteil bei gesellschaftlichen Transformationsprozessen, weil dadurch die notwendige Irritation für die gemeinsame Suche nach neuen Bedeutungsperspektiven, Arten des Denkens, Fühlens und Handelns und neuen Optionen entstehen kann.

3.3 Unsere Gewissheiten und Werte aufzugeben bedeutet, die eigene Komfortzone zu verlassen. Es braucht die Bereitschaft, zu lernen und zu

Man muss für das transformative Lernen bereit sein und fähig sein, die eigene Komfortzone der bisherigen Gewissheiten zu verlassen. Bewusstes Verlernen – d.h. bewährte Bedeutungsperspektiven zu verlassen – geht dabei Hand in Hand mit Lernen von neuem Denken, Fühlen und Handeln sowie einer Veränderung unserer Weltbeziehung. Will man solche Transformationsprozesse selber gestalten, ist man wohl eher motiviert. Werden sie einem von aussen aufgezwungen, ist Widerstand wahrscheinlich. Die für gesellschaftliche Transformationen geforderten transformativen Lernprozesse sind nämlich anspruchsvoll und in der Umsetzung nicht immer attraktiv: Sie können abhängig von unterschiedlichen persönlichen und kontextbedingten Faktoren Ängste und Stress auslösen und gesellschaftliche Unruhe oder Orientierungslosigkeit bringen. Sie können aber auch Momente von grosser Kreativität und Reflexivität bewirken (Förster et al. 2019, S. 325) und Momente von gerechterem Umgang miteinander ermöglichen.

Ausgelöst wird transformatives Lernen meist durch Irritationen, Erfahrungen der Inkohärenz, Desorientierung oder sogar durch Krisen: Das, was wir bisher als gewiss angenommen haben, wie unsere Werte oder Grundannahmen, ist nicht mehr gültig. Unser Handeln ist nicht mehr funktional, und wir finden keine Lösung für ein anstehendes Problem. Stress schränkt unsere Kritik-, Lern- und Dialogfähigkeit stark ein: Wenn wir im Stressmodus sind, übernehmen automatisierte Stressmuster unser Denken, Fühlen und Handeln, um so schnell wie möglich wieder aus der Situation herauszukommen. Das für den transformativen Lernprozess erforderliche kritische Reflektieren, unsere Kreativität, unsere Fähigkeit zu konstruktivem sozialem Kontakt, z.B. einen Dialog zu führen und in Resonanz zu gehen, und unsere Lernfähigkeit, werden so eingeschränkt. Wenn bisherige Bedeutungsperspektiven, die uns Orientierung geben, in Frage gestellt werden, steht zudem auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die diese Bedeutungsperspektive vertritt, auf dem Spiel, beispielsweise wenn das Infragestellen unseres Konsumverhaltens auf Widerstand und Unverständnis im eigenen Freundeskreis stösst.

Transformativ Lernende benötigen einerseits Kompetenzen zur Regulation von kognitiv und emotional schwierigen bzw. Stress-Zuständen, die durch Unsicherheit, Mehrdeutigkeit, Widersprüchlichkeit, Spannungen, Komplexität und Erfahrungen von Inkohärenz hervorgerufen werden. Dazu gehört die Offenheit für lebenslanges Lernen und der Wille, an einer Zukunftsvision teilzuhaben und dazu beizutragen. Andererseits braucht es sichere Lernumgebungen (“safe enough spaces”), die konstruktive Beziehungen und Resonanz mit sich selbst sowie mit anderen Menschen, Lebewesen oder unserer Umwelt ermöglichen (Förster et al. 2019, Singer-Brodowski et al. 2022). In diesen sicheren Lernumgebungen kann ein kritischer, gewaltfreier Dialog stattfinden, bei dem es nicht darum geht, recht zu erhalten, sondern den anderen und sich selbst zuzuhören. Dieser Dialog wird, wie Singer-Brodowski et al. (2022, S. 7) vorschlagen, am besten in Form von sogenannten «edifying conversations» (wörtlich übersetzt: aufbauende Konversationen) gestaltet, die auf Augenhöhe stattfinden und verschiedene Perspektiven und Handlungsoptionen zulassen.

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Lernumgebungen und Lernprozesse für transformatives Lernen gestalten wir bewusst und gekonnt.

4.1 Transformatives Lernen bedingt ein Lehrverständnis weg vom Vermitteln hin zum Ermöglichen.

Transformatives Lernen basiert auf einem humanistischen, emanzipatorischen Menschenbild und einem systemischen Weltbild. Bildung, die transformatives Lernen ermöglichen möchte, erfordert daher ein systemisch-konstruktivistisches Lehrverständnis: statt ausschliesslich Wissen zu vermitteln, geht es auch um die Befähigung zur Veränderung von uns selbst und von Systemen, in denen wir uns bewegen. Dazu ist eine ermöglichende Didaktik nötig, die Lernende in ihrem Such- und Lernprozess stärkt und unterstützt sowie auf das Bedürfnis der Lernenden nach Selbstwirksamkeit, Autonomie und sozialem Eingebundensein achtet (Arnold, 2012).

In diesem Lehrverständnis muss das Zusammenspiel von Bedeutungsperspektiven, Denken, Fühlen und Handeln adressiert werden. Und es geht insbesondere darum, die Eigenständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Handlungsfähigkeit im Sinne eines emanzipatorischen (Empowerment-)Ansatzes zu fördern und zu wahren. Somit werden transformative Lernprozesse auch politisch. Die Gefahr, dass Lernprozesse für bestimmte politische Zwecke instrumentalisiert werden, kann allerdings dank Berücksichtigung des «Beutelsbacher Konsenses» entschärft werden. Dieser Konsens besteht aus drei Elementen: keine Indoktrination (Überwältigungsverbot), Beachtung kontroverser Positionen und freie Meinungsbildung sowie der Schutz der eigenen Position der Lernenden. Obwohl das Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung eine normative Zielsetzung verfolgt, gilt es also achtsam zu bleiben, dass transformatives Lernen kein Werkzeug zur Durchsetzung von spezifischen politischen Interessen wird, sondern eine zukunftsoffene, lernende Auseinandersetzung mit komplexen Herausforderungen unserer Zeit bleibt.

Lehrende müssen ihre Haltung und ihr Handeln kritisch reflektieren, vertrauensvolle Beziehungen gestalten und bereit sein, Lernende in einen emotional und individuell herausfordernden Lernprozess zu leiten und zu begleiten – unter Wahrung deren Autonomie und Selbstverantwortung. Dazu sind insbesondere in Phasen des “noch nicht Wissens” eine konstruktive Fehlerkultur und die Haltung des Experimentierens hilfreich.

4.2 Transformatives Lernen erfordert spezifische Lehrfähigkeiten und entsprechende Weiterbildungen.

Um transformatives Lernen zu ermöglichen, entscheiden sich Lehrende bewusst für diesen didaktischen Zugang. Sie richten ihre Lernziele, Bildungsaktivitäten und (falls erforderlich) die Beurteilung darauf aus. Gelehrt wird nicht mit dem Vermittlungsgefälle Wissende*r – Nichtwissende*r, sondern mit der Haltung der Lernbegleitenden, die Lernumgebungen schaffen, welche selbstgesteuertes Lernen zulassen. Dazu braucht es einen didaktischen Zugang, in dem die Lehrenden sich auch als Lernende verstehen müssen. Der bewusste Umgang mit Rollenerwartungen – einerseits Lehr-/Lernperson, andererseits Begleiten von Lernen, Abnehmen von Prüfungen oder das Vertreten einer Disziplin (Thomann, 2019) – ist anspruchsvoll und sollte in der Aus- und Weiterbildung thematisiert, aktiv erprobt und reflektiert werden.

Der Bedarf an Weiterbildung für Lehrpersonen betrifft einerseits das Grundverständnis der nachhaltigen Entwicklung als systemisch-normative Herausforderung und andererseits das Verstehen des transformativen Lernens als Prozess. Mit solchen Weiterbildungen kann didaktische Praxis in konkreten Bildungssituationen entwickelt und angeeignet werden. Neben dem Aufbau von fachlichen und methodisch-didaktischen Kompetenzen, um Kurse vorzubereiten, durchzuführen und zu evaluieren, sowie der Entwicklung von sozialen und persönlichen Kompetenzen, müssen sich Lehrende für transformatives Lernen auch mit den eigenen Werten und Normen auseinandersetzen und diese für die Lernenden explizit machen (Biester & Mehlmann, 2020, S. 11).

Weiterbildungen von Lehrenden, die transformatives Lernen für die nachhaltige Entwicklung fördern wollen, gibt es in dieser Form nur wenige. Beispiele von Lernaktivitäten für Aus- und Weiterbildungspersonal, die transformatives Lernen ermöglichen und in Weiterbildungen zur Anwendung kommen könnten, finden sich beispielsweise in transdisziplinären, projekt- und erfahrungsbasierten, natur- oder körperbezogenen Gefässen (z.B. Biester & Mehlmann, 2020). Es wäre dringend notwendig, ein solches Angebot aufgrund von existierenden Erfahrungen und Forschungen weiter aufzubauen und breit zugänglich zu machen. Zusätzlich zum Weiterbildungsangebot braucht es schliesslich eine fundierte und breite Auseinandersetzung mit der curricular-institutionellen Verankerung transformativer Lernprozesse für eine nachhaltige Entwicklung (Wilhelm et al. 2019).

4.3 Wenn Lernende ihre Komfortzone verlassen sollen, braucht es sichere Lernumgebungen.

Damit wir uns auf transformative Lernprozesse einlassen und trotz Phasen des Nichtwissens, der Unsicherheit, der Orientierungslosigkeit oder der Mehrdeutigkeiten unsere Komfortzone verlassen und individuell und kollektiv Lernen können, müssen wir uns sicher genug fühlen. Dies ist auch zentral, um nicht automatisierten Stressreaktionen das Feld zu überlassen. Hierzu brauchen wir sichere Lernumgebungen, sogenannte “safe enough spaces” (Singer-Brodowski et al., 2022).

Um sich sicher genug zu fühlen, ist im transformativen Lernprozess ein Ausbalancieren zwischen Ressourcen – wie eigenes Wissen, Erfahrungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten inklusive Resilienz sowie genügend Zeit und Geld – und Herausforderungen nötig. Dies gilt sowohl für die transformativ Lernenden wie auch für die Lehrenden. Besonders wichtig ist die soziale Unterstützung in vertrauensvollen, wertschätzenden Beziehungen und Interaktionen. Die Beteiligten achten auf die Autonomie der Personen, vertrauen in ihre Selbstwirksamkeit und Ressourcen und befriedigen das Bedürfnis nach sozialem Eingebundensein. Als Lernende müssen wir also vertrauen können in den Prozess, in die Lehrperson und in die anderen Lernenden, sowie in uns selbst, um die Herausforderungen meistern zu können. Dies ist unter anderem der Fall, wenn Ressourcen und Herausforderungen für uns subjektiv in Balance sind. Allerdings muss bedacht werden, dass jeder Lernprozess – auch der transformative Lernprozess, eine ständige Reizung der Balance impliziert. Sind die Ressourcen zu klein, fühlen wir uns von den Herausforderungen überwältigt und reagieren mit hohen Stresslevels oder Ängsten; sind die Herausforderungen subjektiv banal, langweilen wir uns.

4.4 Transformative Didaktik muss individuelle und kollektive Selbstorganisation stärken und Handeln ermöglichen.

Transformative Didaktik für eine nachhaltige Entwicklung muss in Lernumgebungen explizit auch Gelegenheiten zum Experimentieren, d.h. zum Handeln schaffen. Dies ermöglicht es, das Erlernte zu festigen, auszuprobieren und anzuwenden. Denn Lernen heisst selber machen und selbstwirksam handeln, was bedeutet, dass Lernende ihre Kompetenzen entwickeln und in der Performanz zum Ausdruck bringen. Sie erleben dabei, dass sie selbst für ihr Lernen und Handeln verantwortlich sind. Ausserdem erfahren sie Selbstwirksamkeit in Gemeinschaft mit ihren Mit-Lernenden und in einem Kontext, in dem sie sich oft machtlos fühlen («eco-anxiety»), und erkennen damit, dass sie individuell und kollektiv positive Veränderungen bewirken können. Didaktische Formate hierfür sind zum Beispiel transdisziplinäre Fallbeispiele, Reallabore oder service learning-Projekte. Dies alles sind jedoch Formate, welche die Glaubenssätze von vielen Bildungsinstitutionen zu einer Transformation herausfordern: betroffene Akteure und Akteurinnen fragen sich, wie sie mit dem Bildungsziel der Befähigung zur Selbstorganisation und mit der Handlungsorientierung umgehen sollen, da sie bisher grösstenteils auf die Vermittlung von Inhalten ausgerichtet waren.

Wie machen wir also Lernergebnisse aus einem handlungsorientierten Lernprozess sichtbar und messbar? Die Idee der Messbarkeit bei transformativem Lernen muss zunächst kritisch hinterfragt werden: Die Beschreibung der Wirkung hängt nicht nur von vordefinierten Lernzielen ab, sondern auch – und vor allem – von Neuem, welches sich erst aus dem kompetenz- und performanzorientierten und selbstorganisierten Lernprozess ergibt. Der Akt der Reflexion und Überprüfung ist somit selbst zentraler Teil des transformativen Lernens (Earl & Katz, 2006). Lehrpersonen müssen diesen formativen Beurteilungsprozessen grössere Beachtung schenken. Die Frage der Leistungsüberprüfung ist also eine komplexe Aufgabe, die ein solides Verständnis der institutionellen Begebenheiten sowie einen kreativen Umgang damit verlangt (Wilhelm et al., 2019). Und dies ist auch ein Teil der geforderten Weiterbildungen für transformativ Lehrende.

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